Will man über alte Menschen was Nettes sagen, dann erklärt man sie als "erfahren". Ich frage mich hier, was denn diese Erfahrung tatsächlich wert ist und wie man sie z.B. in der Berufswelt so einsetzen kann, dass das Alter andere Defizite (wie verminderte Leistungsfähigkeit und Lernfähigkeit) ausgleichen kann.
Die Erfahrung, die man den Seniorinnen und Senioren zuspricht, ist die Summe aller aus Wahrnehmungen, Sinneseindrücken und kognitiven Prozessen der Auseinandersetzung mit der Umwelt und sich selbst erworbenen Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, also das, was im Gedächtnis haften bleibt, abrufbar ist und schließlich angewendet werden kann.
Je länger nun jemand lebt, je aktiver er oder sie sich mit der Umwelt auseinandergesetzt hat, je abwechslungsreicher der Lebenslauf war, je anerkannter seine Fertigkeiten, vielleicht sogar seine Meisterschaft war, je besser das Gedächtnis ist, um so größer wird seine Erfahrung sein.
Je besser jemand nun diese kommunizieren kann, sie als abstrakte und damit übertragbare Lernerfahrung oder Wissen vermitteln kann, je sympathischer er oder sie und je glaubwürdiger damit jemand ist, um so höher wird der Wert dieser Erfahrung angesetzt werden können.
Hat sich aber die Umwelt stark verändert, dann ist die gewonnene Erfahrung nicht mehr viel wert. Zumindest glaubt unsere Gesellschaft dies, weil sie nur den augenblicklichen, lokalen Nutzen sieht. Aber selbst in diesem Fall sollte man auf diese Erfahrung nicht verzichten, wie ich zum Schluss noch zeigen werde.
Lust und Last des Alterns, Herausgeber Gerhard Josten.
Dort ist auch dieser Beitrag über ERFAHRUNG enthalten.
Ich sehe viele verschiedene Aspekte und es wird eine lange Liste dazu folgen. Personalchefs sollten sie sich genau anschauen. Es wird ihre Wahrnehmung von Alter schärfen, vielleicht sogar verändern. Auch Menschen, die ab 50 nochmals ein neues Betätigungsfeld suchen, finden damit Anregungen, wo ihre Stärken liegen könnten.
Immer genannt werden Arbeitsmoral, Disziplin und Loyalität. Aber meiner Meinung sind andere Facetten viel wichtiger.
Der wichtigste Zugewinn ist sicherlich die Menschenkenntnis. Menschen als Spezies verändern sich - selbst in historischen Zeiträumen gesehen - nur wenig, sind aber komplizierte Wesen und nicht unbedingt leicht zu verstehen. Je länger sich nun jemand in dieser Kunst übt, um so mehr wird er darüber wissen.
Eine andere wichtige Erfahrung ist das Erkennen von Zyklen. Alte Menschen haben so viele Entwicklungen gesehen, die erfolgreich gestartet sind, Höhepunkte hatten und nach gar nicht so langer Zeit dann wieder in der Versenkung verschwunden sind. Sie werden damit zu neutraleren Beobachtern, können bessere Prognosen machen und vor großem Schaden bei Falscheinschätzung bewahren.
Das Identifizieren von Zyklen ist nur ein Beispiel von Systemwissen, für das Ältere viel besser gerüstet sind. Sie können Lösungen besser verstehn, weil sie auch die Probleme schon gehabt haben. Selbst hochintelligente Junge haben Schwierigkleiten, abstrakt, ohne Lebenserfahrung, sich dieses wichtige Wissen anzueignen.
Alte Menschen, die lange berufstätig waren, haben oft ein ausgeprägtes Verständnis für Qualität. Sie wollen auf ihre Arbeit stolz sein und fühlen damit viel mehr Verantwortung, dass sie das Richtige auch richtig machen.
Alte Menschen sehen zwar schlechter als junge, aber dennoch haben sie meist den besseren Durchblick, weil sie wissen, worauf sie achten müssen. Ihre vielen Fehler in der Vergangenheit erweisen sich als gut angelegtes Lehrgeld.
Eine weitere wichtige Eigenschaft, die fast jeder alte Mensch erwerben muss, ist das Management des Wechsels (Change Management). Jeder Umzug, jeder Berufswechsel, jeder Familienzuwachs, jeder Todesfall, jede Krise, jede Chance hat diese Fähigkeit - u.U auch zu improvisieren - verbessert.
Manche Probleme löst man am besten durch Aussitzen. Dazu haben Junge oft einfach nicht die Nerven, es fehlt ihnen auch an Erfahrung, wann diese Strategie optimal ist. Alte Haudegen tun sich da viel leichter.
Alte Menschen tun sich zwar schwer, neue Sprachen zu lernen, aber in einem langen Leben haben viele von ihnen große Sprachkenntnisse angesammelt. So ist es nicht ungewöhnlich, bei ihnen zumindest rudimentäre Kenntnisse von mehreren Sprachen anzutreffen. Viele Auslandsreisen, Urlaube, Dienstabordnungen, aber auch Auswandern, Flucht und Vertreibung haben dazu beigetragen.
Alte Menschen sind oft unterhaltsame Plauderer und die glaubwürdigeren Erzähler. Man unterstellt ihnen eher, dass sie - mit tiefer Stimme, breiten Schultern und mehr Autorität - authentisch berichten. Junge müssen schon sehr viel mehr schauspielerisches Talent aufbringen, um ähnliche Effekte zu erzielen.
Ein großer Vorteil kluger Alter ist eine bessere Selbsteinschätzung. Sie kennen ihre Grenzen besser, wissen was gut, auch was schlecht für sie ist und sie haben so eine besser Basis für Zufriedenheit.
Ältere als Partner sind meist stabiler, leichter einschätzbar, man weiß, was man bekommt. Sie können geduldiger, großzügiger, offener und ehrlicher sein. Für blöde Spielchen fehlt es ihnen inzwischen an Motivation. Kontakt zu ihnen ist so leichter und weniger anstrengend, aber auch weniger aufregend und spannend.
Viele alte Menschen verfügen über hervorragende Umgangsformen, sind kluge Diplomaten und sie werden damit geachtete Vermittler, Schiedsrichter, Moderatoren oder Schlichter.
Manche Senioren sind erstaunlich ungebunden. Keine Kinder und keine Eltern mehr zu versorgen, eine Wohnung, die man zusperren kann und die keine Betreuung braucht. Auch auf längsten Dienstreisen kann der Ehepartner mitfahren oder wenn Überstunden gebraucht werden, können sie viel flexibler reagieren. Auch die Ausfälle durch Krankheit sind niedrig.
Da Senioren nicht mehr auf jeden Modegag reinfallen, werden sie zu besseren Beurteilern dafür, was praktisch ist. Da praktische Lösungen auf die Dauer alles andere überleben, ist dies eine sehr wichtige Fähigkeit.
Auch für Vereinfachungen können sie zu den besseren Experten werden. Lange Beobachtung findet leichter den Sinn einer Einrichtung und langer Frust hat alle Schwierigkeiten des bestehenden Systems offenbart. So kann aus der Analyse bei kreativen Menschen auch leicht eine glückliche Synthese werden.
Alte Menschen sind meist die besseren Bewahrer von Kultur. Sie haben alle ihre Facetten erlebt, vielleicht auch manchmal sogar selbst experimentiert und wissen, was die kulturellen Bedürfnisse ihrer Mitmenschen befriedigt.
Dazu gehört auch, dass sie, falls sie musikalisch tätig waren, im Alter oft erst zu ihrer größten Meisterschaft auflaufen. Solange sie noch körperlich in der Lage sind, ihr Instrument zu bedienen, wird jedes Jahr zusätzliche Kenntnisse und Fertigkeiten bringen.
Auch wenn sie selbst nicht mehr in der Lage sind zu spielen, ihre Urteilskraft wird über die Jahre ebenfalls zunehmen. Das Nachlassen der Sinne im Alter (wie Schwerhörigkeit oder schlechtes Sehen) kann lange Zeit mit Hilfen gut kompensiert werden.
Alte Menschen sind gute Archivare. Viele von ihnen können noch problemlos altdeutsche Schriften (Kurrent, Sütterlin) lesen. Ihr umfangreiches Wissen über vergangene Zeitabschnitte, vielleicht sogar als Zeitzeuge erworben, macht es ihnen leichter, Daten und Fakten richtig einzuordnen.
Alte Sammler wissen unheimlich viel über ihr Sammelgebiet, Details, die man in keinem Katalog oder Sachbuch finden wird. Auch der Umfang ihrer Sammlungen ist oft beachtlich. Sie haben lange Zeiträume gut genutzt, um ihr Gebiet zu ergänzen, zu erweitern und auch zu beschreiben.
Kontaktfreudige alte Menschen können sehr viel in Netzwerken beitragen. Ihre vielen Kontakte, gepaart mit Fachwissen, ermöglichen oft Projekte, die ohne sie kaum möglich wären.
Alte Menschen können leichter diskret sein, als junge. Sie müssen nicht mit jedem Wissen gleich herausplatzen, sie haben die Vorteile von Diskretion und Verschwiegenheit selbst erfahren und gelernt und sind oft besser in der Lage damit umzugehen. Geheimnisse belasten sie weniger.
Last but not least können alte Menschen die besseren Experten für andere alte Menschen werden, wenn sie in der Lage sind, über den eigenen Tellerrand zu schauen. In einer Gesellschaft, die ganz dringend nach Experten zu diesem Thema sucht, wird dies die wichtigste Erfahrung werden, die kommerziell von Bedeutung ist.
Leider ist der langen Liste der positiven Effekte der Erfahrung auch ein Gegenstück an negativen Aspekten gegenüber zu stellen. Nicht nur Erfolge und Lernerfahrungen haben ein Leben geprägt, sondern auch Misserfolge, Verluste und Schmerzen.
Einige davon haben zu Vermeidungsstrategien geführt, manche vielleicht auch zu Bösartigkeit und Rache. Auf jeden Fall ist damit ein Schwächung eingetreten, das lange Leben hat sie nicht stärker, sondern schwächer werden lassen und manche werden deshalb den besonderen Schutz der Gesellschaft benötigen.
Richtig eingeschätzt, kann auch diese Erfahrung einen großen Wert für die Gesellschaft bekommen. Man benutzt sie als Seismograph für die Auswirkung von Veränderungen. Die besondere Sensibilität der Schwachen kann frühzeitig, oft vielleicht gerade noch rechtzeitig, größer werdende Probleme aufzeigen.
Man sollte also nicht nur die oft geäußerten Probleme der Alten als Jammern oder Pessimismus abtun, sondern immer auch hinterfragen, wo sie vielleicht früher als andere erkennen, dass sich hier ein Problemchen zu einem ausgewachsenen Problem entwickelt.
Die Erfahrung der Alten sollte als Ressource verstanden werden, die es angemessen auszuschöpfen gilt. Wenn Senioren Berater der Gesellschaft sind, dann muss diese aber auch die Option haben, nicht nur auf sie zu hören. Denn nicht die Berater tragen die Verantwortung für eine Entscheidung, sondern die Entscheider.
Da alte Menschen sich oft zu großen Egoisten entwickeln, können sie Gefahr laufen, dass sie ihre lange Erfahrung nur zu ihrem eigenen Wohl einsetzen, meist besteht es darin, die eigene Macht zu festigen.
Die Geschichte, aber auch die aktuelle Weltsituation, bietet viele Beispiele dazu, man denke nur an das unglückliche Castro Regime auf Kuba. Aber auch in kleinerem Rahmen werden Alte zu Gesellschaftsbetonierern, Haustyrannen, Firmendiktatoren und Bremsern jeder Weiterentwicklung.
Hier wird dann die Erfahrung zum Problem und sie führt zu Verfestigungen, Starrheit, Verkrustung und schließlich auch zum Untergang. Im persönlichen Bereich kommt es dann zu Brüchen, Tragödien, ja sogar zu Katastrophen.
Der Ausweg, den viele Firmen gehen, ist ein strenges Alterslimit für Top- Entscheider, meist sind es 60 Jahre. Ich halte dies für eine gute Richtlinie, die ich auch persönlich versuche einzuhalten. Wer 60 ist, sollte die Verantwortung bald in jüngere Hände abgeben. Wer dies geschickt macht, wird seine Rolle als geschätzter Berater behalten, sich aber von der Last des operativen Geschäftes befreien.
Er wird antworten, wenn er gefragt wird, seine Meinung aber nicht mit allen Mitteln den anderen aufdrängen wollen. Wem dies zuwenig ist, der kann ja ein neues Tätigkeitsfeld beginnen, in dem er, entweder alleine oder mit anderen Gleichaltrigen, sich nicht an die allgemeinen Regeln halten muss. Ein gutes Vorbild sind für mich die emeritierten Professoren. Immer noch Teil der Institute, mit den Vorzügen ihre Infrastruktur mit benutzen zu können, können sie sich viel freier entfalten, wenn sie sich nicht einmischen!
Gerade der Computereinsatz hat hier viel verändert. Heute noch begehrter Spezialist als Schriftsetzer und morgen total überflüssig. Viele Handwerker existieren nicht mehr, weil es die Produkte nicht mehr gibt, die sie hergestellt haben. Manche Berufszweige haben sich durch Streiks solange unbeliebt gemacht, bis man sie durch Maschinen ersetzt hat.
In vielen Fällen wird nichts anderes übrig bleiben, als damit zu leben. Vielleicht etwas zu trauern oder in Nostalgie zu schwelgen. Aber in einigen Fällen geht es auch anders und ich habe gute Beispiele dazu erlebt.
Wer in der Lage ist, sein Berufsbild so zu beschreiben, dass es der Nachwelt noch etwas nützt, wird oft dabei Hilfe und Unterstützung, in jedem Fall aber Anerkennung in der Gesellschaft finden.
Schöne Beispiele sind für mich die Fernsehsendungen und Bücher mit den Titeln "Die letzten ihrer Zunft", wo man versucht, dieses Wissen zu konservieren. Auch viele Firmenarchive und Firmenmuseen zeugen davon, wie sinnvoll es sein kann, scheinbar überholte Erfahrung zu bewahren.
Man sollte auch nicht vergessen, dass nicht alle Länder dieser Welt von Hochtechnologien leben. Die Seniorenhandwerker, die im SES mitarbeiten, sind gelegentlich ein gutes Beispiel, dass auch einfachere Technologien dankbare Abnehmer finden.
Die Erfahrungen, die wir mit unseren alten Menschen angesammelt haben, sind ein großer menschlicher, kultureller und auch ökonomischer Schatz. Kluge Gesellschaften nutzen ihn entsprechend und zapfen dieses Wissen auch an und bewahren es.
Gerade Jugendliche sollten nicht vergessen, dass sie den Wohlstand, in dem sie leben, mit den schönen Dingen, die sie umgeben, ihren Vorfahren und deren Leistungen verdanken.
Alte können durchaus stolz auf ihre Leistungen sein. Diese Genugtuung wird ihnen helfen, leichter den Führungsanspruch in jüngere Hände zu geben und verstärkt zu Seniorenarbeitsplätzen zu wechseln, anstelle dass sie in einen (zu passiven) Ruhestand gehen.
Ich sehe meine lange Liste an positiven Eigenschaften im Alter als einen Beitrag zum Kompetenzmodell des Alters an. Leider muss ich an vielen anderen Stellen eher zum Defizitmodell greifen, weil nur so die Tabus, die mit dem Alter verbunden sind, aufgehoben werden können.
Ich weiß selbstverständlich, dass eine Alternde Gesellschaft neue Probleme haben wird, aber je mehr wir darüber wissen, um so leichter sind diese dann auch zu lösen.
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