Singen ist meine Lieblingsform der Unterhaltung alter Menschen. Es ist aktiv, es belebt, es fördert die Kommunikation, es bleibt in jedem Alter eine Herausforderung und es macht Freude! Wer singt ist nie allein und lebt auch gesünder. Leider werden gerade von Chorleitern (oder auch ehrgeizigen Vorständen) in diesem Zusammenhang viele Fehler gemacht, die diese Freude dann sehr mindern.
Der Hauptfehler ist die Erwartung, dass man mit Menschen über 65 generell immer noch musikalische Spitzenleistungen erbringen kann. Man kann es nicht und die vielen Fehl-Versuche führen fast immer dazu, dass dann die Seniorinnen und Senioren das Singen ganz aufgeben. Das Problem ist immer der Aufführungsdruck und die Angst vor Blamagen. Vergesst es Chorleiterinnen und Dirigenten, wer Spitzenchöre haben will und damit in Konzerten brillieren will, muss sich junge Sänger suchen!
Im Alter wird die Gemeinschaft immer wichtiger, der gemeinsame Spaß und die eigene Freude am Singen. Sicherlich sind auch einige alte Sänger und Sängerinnen noch zu Höchstleistungen fähig, aber die Menge wird es nicht schaffen. Darum ist auch den Gesprächen untereinander sehr viel Raum zu geben und das so beliebte permanente Pochen auf Disziplin meist Unsinn. Eine gute Gemeinschaft ist wichtiger als guter Gesang.
Da das Gespräch aber die Chorarbeit auch stört, sind einige Besonderheiten zu beachten. Ist der Raum groß genug, kann immer nur eine Stimme zum Klavier gehen und dort intensiv proben, während die anderen sich im Hintergrund unterhalten können.
Geht dies nicht, dann kann man Stücke mit weniger Stimmen einplanen, auch so wird ein Großteil der Gruppe aktiv bleiben und nicht durch den viel langsameren Fortschritt der anderen gelangweilt werden. So wird man dann eher zweistimmig singen, bis man zum Schluss dann bei der Einstimmigkeit, mit vielen Redepausen dazwischen, landen wird.
Es geht ganz einfach mit der Videofunktion einer normalen Digitalkamera. Während des Übens Kamera auf die Noten halten, selber etwas leiser singen und alles mitschneiden. Wer dies mit anderen teilen will, legt das Ergebnis (nichtöffentlich) auf Youtube.
Jetzt kann man, so oft man will und ohne weitere fremde Mithilfe, auch schwierigere Passagen üben. Dies hat sich sehr bewährt. Ich probe neue Lieder kurz einmal pro Tag und sie sitzen bis zur nächsten wöchentlichen Probe dann schon fast perfekt!
Immer hilfreich im Alter ist die Begleitung durch ein Instrument. Ein lautes Instrument, wie Klavier oder Ziehharmonika helfen ungemein, zur Not kann auch eine Gitarre unterstützen den Rhythmus beizubehalten und die Melodie zu finden. Mit einem elektronischen Klavier (Orgel) wird das oft notwendige Transponieren ganz einfach. Schon ein kleines Kinderkeyboard (kabellos, batteriebetrieben) kann helfen, die richtigen Anfangstöne eines Liedes zu finden. Meist sind diese Töne in der Praxis anders als in den Noten, denn der Tonumfang alter Menschen wird kleiner.
Nicht nur beim Singen ist oft der Wunsch da, die Musik etwas tiefer zu haben, auch beim Tanzen soll sie häufig etwas langsamer sein. Mit dem Programm Audacity ist dies alles kein Problem, damit kann man sowohl die Tonhöhe, wie auch das Tempo - unabhängig voneinander - variieren!
Für manche Wander-und Volkslieder hilft ein Rhythmusinstrument zur Verstärkung. In unserem Altersheim sorgt ein Tischbumbass (eine kleine Teufelsgeige, übrigens ein ideales Geschenk!) für beste Laune.
Auch Menschen, die Noten lesen können (es sind häufig nicht viele) haben schon wegen der Sehschwierigkeiten Probleme vom Blatt alleine zu singen und da die Stimmen immer brüchiger werden, verbietet sich oft das A-Capella singen.
Ist genügend Geld vorhanden, dann sollte man die Kosten für bezahlte Stimmführer nicht scheuen. Das sind gute, jüngere Sänger und Sängerinnen, die problemlos vom Blatt singen können und so eine ganze Stimme stützen. Weil es für sie wenig Spaß machen wird in einem mittelmäßigen Chor zu singen, wird man sie deshalb bezahlen müssen. Ist eine Stimmlage dauerhaft zu schwach besetzt, dann sollte man sie ganz aufgeben und das Notenmaterial entsprechend auswählen. Es ist besser, sich in Ehren zu verabschieden, als dass alle lange leiden. Man kann durch noch so viel Training aus Truthühnern keine Adler machen.
Wer noch nie in seinem Leben gesungen hat, wird große Schwierigkeiten haben, im Alter damit zu beginnen. Verschüttete Talente kann man ja freilegen, aber wer ohne Talent ist, bei dem nützt auch die Förderung nichts mehr. Die zunehmende Schwerhörigkeit und Gedächtnisprobleme erschweren das Lernen zusätzlich und wer total daneben singt stört die Singfreude seiner Altersgenossen empfindlich und sollte sich besser am Zuhören erfreuen.
Wichtig sind regelmäßige Probentermine, am besten einmal pro Woche, immer zur gleichen Zeit und am gleichen Ort. Länger als 2 Stunden sollte eine "Singstunde" nie dauern. Es sind dazwischen immer mehrere kleinere Pausen zum Erholen aber auch für die Kommunikation einzuplanen. Singen kann man nicht nur am Abend, sonder vielleicht sogar besser am Vormittag. Mein Seniorenchor probt z.B. am Freitag von 9.30h bis 10.45h und lässt so Raum, auch gleich die Besorgungen am nahen Marktplatz zu machen.
Volkslieder als Therapie bei Demenzerkrankungen
Viele Volkslieder Texte und Melodien findet man bei
Weihnachtslieder
www.singen-kennt-kein-alter.de
Das käufliche Notenmaterial ist oft seniorenungeeignet, weil es zu klein gedruckt ist oder weil man zu viel umblättern muss. Hier wird man die Noten umkopieren müssen. Alles im DIN A4 Format in einem Ordner, das hat sich gut bewährt. Gesungen werden gerne Lieder, die man noch aus der Schulzeit kennt. Ein Liederbuch aus alten Tagen (heute meist problemlos bei ebay erhältlich) ist oft die beste Vorlage.
Manchmal genügen auch nur die Texte, denn die Noten sind oft ohnehin nicht mehr lesbar. Fertigt man selbst Seniorenliederbücher an, dann sollte man darauf achten, die Texte mit allen Wiederholungen (Refrains) anzugeben und auch zu notieren, welche Tonlage für einen speziellen Chor optimal ist.
Ich selbst markiere mir zusätzlich zur besseren Sichtbarkeit meine Stimme mit einem Marker mit gelber Farbe. Auch die Stimmlagen sind oft nicht mehr erreichbar (meist zu hoch), so dass man sie dann transponieren wird müssen, kein Problem für elektronische Instrumente.
Senioren werden überwiegend im Sitzen singen wollen, langes Stehen ist für die meisten ein absoluter Hinderungsgrund. Aber auf Lockerung und Stimmbildung werden auch sie nicht verzichten wollen. Diese Übungen, die aber nicht länger als 5-10 Minuten dauern dürfen, sind zur Schonung der Stimme absolut notwendig. Wenn sie spaßig sind, werden sie gerne akzeptiert.
Es ist darauf zu achten, dass der Probenraum sehr hell ist, das Licht aber trotzdem nicht blendet und es müssen genügend Noten vorhanden sein, damit jeder sein eigenes Exemplar hat. Das Rübergucken zum Nachbarn ist für Brillenträger meist nicht mehr machbar. Die Dirigenten müssen gut sichtbar sein. Bewährt haben sich ein Podest, weiße Manschetten o.ä. und ein weißer Taktstock, damit die Armbewegungen besser wahrgenommen werden können.
Ein weiterer Hauptfehler ist die Lautstärke. Seniorenchöre tendieren dazu, zu laut und zu wenig nuanciert zu singen. Hier muss man bewusst leisere Lautstärken fordern, auch sie schonen die Stimme. Und immer muss ein Flasche mit Getränken (z.B. mit warmem Wasser) bei der Hand sein. Singen ohne zu trinken ist nicht nur unerfreulich, sondern auch schädlich.
Große Probleme bereiten auch fremdsprachige Texte oder zu schnelle Tempi. Es gibt genügend deutsches Liedgut und es müssen nicht alle im Karajan-Schnellzug fahren. Schön an unseren heutigen Senioren ist, dass sie viele Lieder (wie übrigens auch Gebete) noch auswendig kennen. Welche Bereicherung für die Seele im Alter! Das werden nachfolgende Generationen schmerzlich vermissen müssen, weil sie es nicht mehr geübt haben.
Auch wenn die meisten Sänger die Texte auswendig kennen, so muss für alle "Nichtwisser" ein Notenblatt angeboten werden. Es gibt viele Migranten, die zwar perfekt deutsch sprechen, aber die lokale Kultur nicht kennen. Es ist auch ein Fehler, unbekannte Texte auswendig lernen zu lassen. Senioren sind damit überfordert und kommen in Stress. Ein Notenblatt in der Hand beruhigt und fördert die Freude am Singen, Stress zerstört die Freude. Singt man ein Lied oft genug, dann prägt es sich auch noch in ein Seniorenhirn ein.
Erfreulich sind die Angebote vieler Kirchenchöre, die den großen Vorteil haben, wenig oder gar nichts zu kosten. Da auch deren Programme den Senioren meist entgegen kommt, werden sie gerne von ihnen besucht. Ist die Altersstruktur gemischt, dann sind sie auch eine gute Basis für ein soziales Netz. Chöre sind gerne Marktplätze. Für Jüngere ein Heiratsmarkt, Ältere finden leichter Hilfe für Alltagsprobleme. Wer im Chor etwas ankündigen will, sollte dazu immer kleine Handzettel verteilen. Das Gesagte ist schon eine Stunde später vergessen, das Geschriebene aber schafft den Weg nach Zuhause zum Nachlesen.
Leider führt die Nähe auch zu Ansteckungen und man sollte nicht in den Chor gehen, wenn man krank ist. Auf jeden Fall sollte man das typisch deutsche Händeschütteln aufgeben. Wenn schon eine herzliche Begrüßung, dann gleich eine Umarmung!
Außerhalb von Kirchenchören muss man darauf achten, dass nicht zu viele religiöse Lieder angeboten werden. Bekennende Atheisten reagieren empfindlich darauf und bleiben dann weg. Da es Kirchenmusikern oft gar nicht mehr auffällt, was ein ein religiöses Lied ist, verbreite ich gerne folgende Merkregel: Kommen in den Texten die Worte Gott, Erlöser, Herr, Maria oder Amen vor, dann ist es eines!
Die Sitzordnung ist in vielen Chören ein großes Problem und auch ein häufiger Grund zum Mobben. Hier muss gelegentlich der Chorleiter einschreiten. Sichere Sänger sollen sich gegenseitig stützen und nebeneinander sitzen. Teilt man sie auf, schwächt man die ganze Stimme. Ihr Platz ist auch in den hinteren Reihen und in der Mitte, damit ihr Gesang die vorderen (schwächeren) Sänger stützt. Folgende Merkregel sorgt für Frieden im Chor: Die Guten nach hinten, die Schönen nach vorne! Für Neuzugänge muss man eine Lösung finden, die sie im Chor willkommen heißt, ohne die existierende "Hackordnung" zu sehr zu stören.
Die schwächeren Sängerinnen und Sänger kommen an den Rand und dürfen dann auch leise singen. Wer regelmäßig ungepflegt kommt, sollte vom Chorleiter oder einem Chorsprecher auf seine Pflichten in einer Gesellschaft, (dazu gehört auch das Waschen) diskret aufmerksam gemacht werden. Es ist besser, offen darüber zu sprechen, als dann das Mobbing zu aktivieren.
Auch Senioren gehen noch gerne auf Chor-Freizeiten. Nur sollten diese eine Ruhemöglichkeit mittags und das Schlafen im eigenen Bett zuhause vorsehen.
Ein großes Problem in Seniorenfreizeitchören (außerhalb von Heimen) ist die Exit-Strategie. Klarer gesagt, wie teilt man Sängerinnen und Sängern mit, dass sie besser nicht mehr mitsingen, weil sie sonst den Chor stören. Eine gute Lösung habe ich dazu im Seniorenchor meiner Mutter gesehen. Ist es soweit, wird man zum Ehrenmitglied ernannt, bekommt eine schöne Urkunde, einen Blumenstrauß, darf dann bei allen Konzerten gratis zuhören (aber nicht mehr mitsingen) und wird auch mit einem Lied am Grabe bedacht. Damit zeigt man Respekt vor dem Alter, erhält aber die Freude am Singen! Denn niemand singt gerne in einem Chor, wo die meisten falsch singen!
Ist die Fluktuation in einem Seniorenchor sehr groß, sollte man ruhig die Frage stellen, warum das so ist. Damit kann man Mobbingprobleme transparent machen oder andere Schwachstellen aufdecken. Besonders wo Berufsgruppen sich häufen, die in ihrem aktiven Leben einem häufigen Mobbing ausgesetzt gewesen sind (wie Krankenhauspersonal oder Lehrerinnen), ist es auch im Alter wahrscheinlich, dass Mobbing vorkommt.
Es bedarf einer speziellen Pädagogik, um die Freude am Singen für Alte zu erhalten. Sie hat zwar schon einen Namen, nämlich Geragogik, aber es fehlt noch an Inhalten dazu. Ich rege hiermit Seniorenchorleiter an, sich auszutauschen (und ihre Erkenntnisse auch zu veröffentlichen), was in Seniorenchören funktioniert und wo die Unterschiede z.B. zu Schulchören liegen.
Ich habe viel im Altersheim und auch im Pflegeheim mit dann kranken Menschen gesungen. Es ist erstaunlich, wie lange selbst Demenzkranke noch Singen können und dabei sich wohl fühlen. Ich habe dazu spezielle Liederbücher angefertigt und selbst (mit Gitarre) den Vorsänger gemacht. Für Demenzkranke sollte man aber eigene Chöre gründen. In einem normalen Chor stören sie empfindlich.
Inzwischen gibt es aber auch kommerzielle Angebote, die dieses Singen unterstützen und die auch einem nicht so begabten Personal den Zugang zum Seniorensingen erleichtern.
Wer gute Seniorenarbeit mit Singen leistet, verdient unsere Anerkennung. Oft sind diese Chorleiter und Chorleiterinnen ehrenamtlich tätig und es wird dann gerne übersehen, wie wichtig sie für unsere Gesellschaft sind!
Musizieren im Alter: Arbeitsfelder und Methoden: Arbeitsfelder und Methoden in der Seniorenarbeit (Studienbuch Musik)
von Hans Hermann Wickel und Theo Hartogh, SCHOTT MUSIC GmbH & Co KG, Mainz (2008)Praxishandbuch Musizieren im Alter: Projekte und Initiativen (Studienbuch Musik) von Hans Hermann Wickel und Theo Hartogh, SCHOTT MUSIC GmbH & Co KG, Mainz (Oktober 2011)
Anti-Aging für die Stimme: Ein Handbuch für gesunde und glockenreine
Stimmen
Die heilende Kraft des Singens: Von den Ursprüngen bis zu modernen Erkenntnissen über die soziale gesundheitsfördernde Wirkung von Gesang von Wolfgang Bossinger
Das Buch der heilsamen Lieder: Liederbuch zur Förderung seelischer
und körperlicher Selbstheilung, Wolfgang Bossinger (Herausgeber), Katharina Neubronner
(Herausgeber)
Heilsame
Lieder 1: Audio CD
Heilsame
Lieder 2, Audio-CD
www.seniorenfreundlich.de/singen.html